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Herbie Hancock: hier am Flügel. © Daniel Nagel

Vor knapp tausend Zuschauern im bei weitem nicht ausverkauften Darmstadtium bot der amerikanische Pianist Herbie Hancock mit seinem Quartett gewohnt lebendige Funk-Jazz-Interpretationen seiner bekanntesten Kompositionen, darunter "Watermelon Man", "Cantaloupe Island" und "Rockit". Das begeisterte Publikum dankte dem gewohnt zugänglichen Zweiundsiebzigjährigen den Autritt mit Standing Ovations.

Das Darmstadtium ist ein hässlicher Klotz in Darmstadts Innenstadt, erbaut von einer Kommune, die nicht wusste, was sie mit ihrem vielen Geld machen sollte. Daher errichteten übereifrige Politiker und Architekten ein Symbol ihres schlechten Geschmacks. Für diese Tat werden kommende Generationen sie verfluchen, während der Beton langsam vor sich hin korrodiert. Herbie Hancock wird es nicht gestört haben, denn aus seiner Heimat sind ihm weitaus schlimmere Bausünden bekannt. Nach einer sechzehnstündigen Fahrt aus Italien war er vermutlich froh, es überhaupt rechtzeitig geschafft zu haben, um am Sonntagabend auf der Bühne zu stehen.

Von Müdigkeit ob der langen Anreise ist von Beginn an jedoch nichts zu spüren. Herbie Hancock tritt mit seinem Quartett bestehend aus Lionel Loueke (Gitarre), James Genus am Bass und Schlagzeuger Kendrick Scott auf – allesamt langjährige Gefolgsleute. Hancocks Bands sind in den letzten Jahren stetig kleiner geworden, ohne dass die Musik an Dichte verloren hätte. Die vier Musiker erschaffen sogleich einen durchdringenden, gut ausbalancierten Funk-Jazz-Groove, der mit einer Ausnahme das ganze Konzert charakterisiert.

Hancock wechselt zwischen Flügel, Keyboard und Keytar, einem tragbaren Keyboard. So vermag er die Texturen der Stücke im Verlauf der fast durchweg über zwanzigminütigen Interpretationen zu verändern, während deren Grundgerüst stets unverändert bleibt. Hancock liefert sich kleine Dialoge – oder Gefechte – mit seinen Musikern, steht mit dem Keytar fast in der Pose eines Rockgitarristen dem Bassisten gegenüber und hat sichtlich Spaß an seiner Musik.

Den zweiundsiebzigjährigen Pianisten beflügelt die Arbeit mit den weitaus jüngeren Musikern sichtlich. Das geht sogar so weit, dass er Lionel Loueke zum Abschluss von Come Running To Me die Möglichkeit bietet, seiner Gitarre ungewohnte Klänge zu entlocken und dazu in einer Sprache mit vielen Schnalz- und Knacklauten zu singen. Für diesen Einsatz erntet der Gitarrist lautstarken Applaus des Publikums.

Come Running To Me stammt von Herbie Hancocks 1978 veröffentlichten Album Sunlight, das er unter Einsatz eines Vocoders aufnahm und dafür bei Kritik und Fans auf Ablehnung stieß. Auf der Technologie des Vocoder beruht auch Autotune, das von zahlreichen Popsängern verwendete Computerprogramm zur Tonhöhenanpassung- und Korrektur. Obwohl Hancock den übermäßigen Einsatz dieses Mittels kritisiert, steht er solchen Neuerungen aufgeschlossen gegenüber, studierte er doch Elektroingenieurwesen, bevor er sich der Musik zuwandte und ist sich auch nicht zu schade, die Technik in seinen eigenen Songs einzusetzen.

Abgesehen von diesem eher obskuren Stück spielt Hancock seine bekanntesten Kompositionen: Watermelon Man (in Verbindung mit einer komplizierten Komposition des Gitarristen Loueke mit dem Titel Seventeenths), dazu Chameloeon, Cantaloupe Island und als Zugabe das heftig umjubelte Rockit. Dazu gibt es ein langes Solo-Klavierstück, das brav vor sich hinplätschert, ohne viel Eindruck zu hinterlassen. In seiner Bedächtigkeit stellt es einen merkwürdigen Gegensatz zum lebendigen Gruppensound der übrigen Stücke dar. Man fragt sich, was die Zuschauer erwarten wird, wenn Hancock im Herbst einige Solokonzerte spielt.

Hancock gibt sich gewohnt leutselig, erzählt kleine Geschichten, berichtet über die lange Anreise und stellt die Band vor. In seiner Offenheit ist Hancock fast das Gegenstück zu dem eher verschlossenen Wayne Shorter, mit dem gemeinsam Hancock viele Jahre Platten aufnahm. Der ebenso wandelbare wie vielseitige Musiker bot in Darmstadt wenig neues, vermochte aber dennoch zu begeistern. Obwohl er ob seiner Wandelbarkeit als "Chamäleon des Jazz" bezeichnet wird, bot er diesmal sein vertrautes Programm – allerdings auf höchstem Niveau, wofür er zum Schluss verdiente standing ovations des Publikums erhielt.

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