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Bobby McFerrin (live beim Leopolis Jazz Fest 2019) © Torsten Reitz

Eine knappe Dekade existiert das Leopolis Jazz Fest in Lviv (Ukraine) inzwischen und hat sich seitdem zu den größten internationalen Veranstaltungen seiner Art gemausert. Auch in diesem Jahr zieht das Event Genre-Weltstars wie Chick Corea, Bobby McFerrin, Lisa Stansfield und Diana Krall ins frühere Lemberg, wo die Musiker auf eine Euphorie treffen, die ihnen sonst nur selten zuteil werden dürfte.

Jazz in der Ukraine? Für westliche Ohren mag das zunächst etwas seltsam anmuten. Dennoch haben in dieser Dekade bereits zahlreiche internationale Stars wie Herbie Hancock, George Benson, Pat Metheny oder John McLaughlin ihr Stelldichein im Westen des mitteleuropäischen Landes gegeben.

Inzwischen gehört das zunächst nach einer großen Bank bekannte Leopolis Jazz Fest in Lviv zu den weltweit größten mehrtägigen Veranstaltungen seiner Art und lockt auch in diesem Jahr Größen à la Chick Corea, Bobby McFerrin, Lisa Stansfield und Diana Krall an.

(K)Eine Generationenfrage

Schaut man sich rund um das Festival um, wird auch schnell klar warum: Das ukrainische Publikum vom Teenager bis zum Rentner ist geradezu euphorisch, wenn es um die improvisierten Klänge geht. Für die ältere Generation repräsentiert der Jazz eine Freiheit, von der sie in vergangenen (sowjetischen) Zeiten nicht einmal annähernd zu träumen wagen durften. Für die Jüngeren hingegen bedeutet die Veranstaltung für ein "Sehen und gesehen werden", das gelegentlich an Events wie die Filmfestspiele in Cannes erinnert.

Beim Leopolis Jazz Fest geben sich die Stars und Sternchen der Ukraine die Klinke in die Hand. So lässt sich irgendwann beispielsweise Ex-Präsident Pavel Poroshenko blicken und steht für Selfies parat. Unter die Zuschauer haben sich auch zahlreiche Geschäftsleute aus der Hauptstadt Kiev gemischt und auch rund um die Bühne ist Prominenz wie die frühere Eurovision Song Contest-Gewinnerin Jamala anzutreffen, die Bobby McFerrin als eine von vielen Gastsängerinnen bei seinem Headliner-Auftritt am ukrainischen Nationalfeiertag unterstützt.

Heimliche (Kultur-)Hauptstadt

Warum aber findet ein Festival dieser Größenordnung im relativ beschaulichen Lviv statt und nicht etwa in der großen Metropole Kiev? Nun, letztere mag nominell zwar die Hauptstadt des Landes sein. Kulturell gesehen hat das frühere Lemberg mit seiner polnischen und österreichisch-ungarischen Vergangenheit und dem Status als UNESCO-Weltkulturerbe in dieser Hinsicht aber wohl die Nase vorn, steht es doch wie kaum eine zweite Stadt in der Ukraine für einen Schmelztiegel aus zahlreichen Einflüssen. Damit ist es als Veranstaltungsort für den vielseitigen Jazz geradezu prädestiniert.

Rund um das fünftägige Festival steht Lviv ganz im Zeichen dieser musikalischen Stilrichtung. Bereits ab dem frühen Nachmittag gibt es an mehreren Orten der Stadt wie etwa dem Marktplatz oder dem Potocki-Palast Gratiskonzerte unter freiem Himmel, und zu späterer Stunde kommen die Nachtschwärmer nach Ende des Hauptprogramms im Bohdan-Khmelnitsky-Park der Kultur und Erholung noch bei Jamsessions in diversen Kneipen der Stadt auf ihre Kosten. Über mangelnde musikalische Angebote kann man sich als Besucher des Leopolis Jazz Fest nicht beschweren.

Masseneuphorie

Wie stolz die Ukrainer darauf sind, dass sich die Weltstars im Westen ihres Landes blicken lassen, beweist bereits der Auftritt von Snarky Puppy als Headliner des ersten Abends. Das texanische Fusion-Kollektiv sorgt für wahre Begeisterungsstürme unter den Besuchern des prallgefüllten Zeltes auf dem Festivalgelände im Khmelnitsky-Park. Spätestens ab der zweiten Hälfte ihres Auftritts hält es einen guten Teil des Publikums nicht mehr auf seinen Sitzen. Viele begeben sich direkt vor die Bühne und tanzen, was das Zeug hält – und die Band befeuert die Euphorie noch weiter, als sie bekanntgibt, dass das gesamte Konzert für eine Live-Veröffentlichung mitgeschnitten wird.

Das Zelt ist an jedem Abend restlos gefüllt. Allerdings haben die gut organisierten Macher des Leopolis Jazz Fest auch an diejenigen gedacht, die aus vielerlei Gründen keine Karten bekommen konnten: Direkt neben dem Gelände befindet sich ein großes Public-Viewing-Areal, auf dem sich tausende Schaulustige einfinden, um die Auftritte ihrer Idole zumindest via Videoleinwand in Bild – und viel wichtiger – transparentem Ton mitzuverfolgen. Billig für ukrainische Verhältnisse sind die Tickets für die Headliner nicht gerade. Auf diese Art kommen aber zumindest alle Interessierten auf ihre Kosten.

Höchstleistungen auf und jenseits der Bühne

Das Ganze nimmt gefühlt Dimensionen an, die man in Deutschland nur von Großereignissen wie etwa der Fußball-Weltmeisterschaft kennt. Dazu gehören auch die Masterclasses der Topstars im Rahmen des Jazz Fest, bei denen sich die Fans Autogramme ihrer Helden und zahlreiche Tipps und Tricks geben lassen können. Es bleibt dabei aber jederzeit im familiären und freundlichen Rahmen, denn man kann die Musiker bisweilen sogar in der Stadt antreffen. So stellen sich etwa die diversen Mitglieder von Chick Coreas neuer Spanish Heart Band zu späterer Stunde im Hotel Leopolis als recht nette Zeitgenossen und angenehme Gesprächspartner heraus.

Die Atmosphäre besitzt also Wohlfühlcharakter, und das färbt auch über weite Strecken auf die Performances der Künstler ab. Vom Publikum geliebt, laufen sie zu Höchstleistungen auf. Besonders gilt dies für die Altmeister Bobby McFerrin, der mit seinem "Gimme 5" einen achtzigköpfigen Chor um sich schart und zwei Stunden lang eine A capella-Show vom Feinsten abliefert, sowie Chick Corea, der in Lviv einen ersten Auftritt mit der Spanish Heart Band bestreitet, der sich wirklich sehen lassen kann. Auch Lisa Stansfield, das Kenny Barron Quintet, das New Orleans-Trio Jon Cleary & The Absolute Monster Gentlemen oder der New Yorker Billy Joel-Verschnitt Peter Cincotti wissen zu überzeugen.

Kleine Schönheitsfehler

Ein bisschen aus dem Rahmen fällt leider Diana Krall. Zwar geht die Kanadierin mit den illustren Gesellen Robert Hurst, Joe Lovano, Marc Ribot und Karriem Higgins auf die Bühne, doch so richtig mag der Funke bei ihrem zweistündigen, mit zahlreichen Jazzklassikern gespickten Programm nicht zünden.

Es ist geradezu sinnbildlich, dass sie von Regen singt und es just in diesem Moment zum einzigen Mal während des gesamten Festivals in Strömen herabprasselt. Die Zuschauer feiern die Ehefrau von Elvis Costello dennoch gebührend, so wie sie sich eigentlich zu allen auftretenden Künstlern wie Étienne Mbappé und seinen Prophets oder dem diesjährigen Preisträger Adrien Brandeis euphorisch äußern.

Wer suchet, der findet…

Dafür entschädigt das Drumherum in Lviv selbst bei vermeintlich enttäuschenden Performances umso mehr – zumindest, wenn man weiß, wo man die Schätze der Stadt jenseits des Jazz und der UNESCO-Stätten finden kann. Im Keller der Kaffeemanufaktur beispielsweise kann man in Bergwerksmanier mit Helm auf dem Kopf flambiertes "schwarzes Gold" zu sich nehmen – aber erst, nachdem ein Kellner es mit einem Flammenwerfer zunächst auf die passende Betriebstemperatur gebracht hat.

Nur ein paar Meter weiter kann man sich bei Pyana Vishnya traditioneller Lemberger Sauerkirschlikör aufgetischt oder im Pravda-Biertheater mit heimischen Hopfenkaltschalen vertraut machen, die den Namen einer früheren sowjetischen Zeitung tragen. Wem das nicht reichen sollte, der kann sich im Masoch-Café, benannt nach dem Urvater des Masochismus, bei Essen und Getränken spielerisch mit dieser Art von Praktiken vertraut machen oder im Gasova Lyampa umgeben von Gaslampen speisen.

Erlebniswelt für Jazzfreunde

Das Leopolis Jazz Fest ist also ein echtes Erlebnis. Daher werden auch die Künstler auf der Bühne bei ihren Auftritten nicht müde, zu betonen, wie gerne sie vor Ort sind und dass sie auch ebenso gerne erneut in diesem Rahmen in die Stadt kommen möchten. Als Beobachter kann man ihnen hierbei nur beipflichten. Selten werden Musikern ihres Genres solche Begeisterungsstürme zuteil, wie sie sie im Westen der Ukraine erfahren – und die Jazzer und ihre Fans genießen jede Sekunde davon.